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Dank unserer Kartenlesefähigkeiten und nicht zuletzt dank unseres Kompasses befanden wir uns endlich kurz vor unserem Ziel. Fernes Pferdewiehern und menschliche Laute ließen keinen Zweifel daran, dass wir bald am Lagerfeuer sitzen und mit den anderen klönen würden, während unsere Pferde auf saftigen Wiesen ihren Feierabend genießen durften.

„Hier müssen wir links abbiegen.“ Beate blickte kurz von ihrer Landkarte auf, um gemeinsam mit mir die vor uns liegende Weggabelung mit unserer eingezeichneten Reitstrecke abzugleichen. „Passt“, attestierte ich und wir bogen fröhlich in Richtung Sternritt-Ziel ab. Vor lauter Schwätzen und Lachen – wir Mädels hatten schließlich immer was zu erzählen, auch nach einem gemeinsamen Reittag - vergaßen wir die Zeit. Und warfen nur noch selten einen Blick auf unserer Wanderreitkarte. Schließlich war unser Ziel zum Greifen nahe.

„Waren wir hier nicht schon einmal?“ fragend schaute ich Beate an. Wir standen an einer Weggabelung, die irgendwie mit der von vorhin Ähnlichkeit zu haben schien. Also mit der Weggabelung, die wir vor einer guten dreiviertel Stunde passiert hatten.

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Der jüngste war er nicht mehr. Aber für seine dreiundsiebzig Lenze noch recht rüstig. Zumindest im Kopf. Seine Knochen waren dem Alter entsprechend leicht marode und eine üble Arthrose ließ seit Jahren täglich grüßen. Mehrfach versteht sich. Seit einigen Wochen war er Witwer. Hundewitwer. Seine über alles geliebte Frau hatte ihn schon vor über zehn Jahren verlassen. Ein ekelhafter Darmtumor beendete abrupt ihre fünfzigjährige Ehe, kurz bevor sie ihr gemeinsames Jubiläum feiern konnten. Und dabei hatten sie sich so darauf gefreut! Aber er war froh, dass seine Sieglinde nicht allzu lange hatte leiden müssen.

Er brauchte mehr als drei Jahre, um sich an das Alleinsein zu gewöhnen. Was war er glücklich, dass er seinen Timo hatte. Timo war ein silbergrauer Pudel, von Geburt an adelig, was sich in seinem tierisch anständigen Benehmen beständig wiederspiegelte. Er war ein ausgesprochen freundlicher und menschenbezogener Hund. Sanft im Umgang, extrem verschmust und trotz seiner kleinen Rasse recht wachsam. Vor allem, was Katzen anbetraf. Die konnte er nämlich überhaupt nicht leiden! Wann immer er auf eines dieser vierbeinigen Geschöpfe traf, wurde er zur Hyäne! Raste wie ein wild gewordener Eber laut kläffend los – mit nur einer einzigen Absicht: Der Mietze den Gar auszumachen! Glücklicherweise passierte letzteres nie. So eine sicherlich blutige Angelegenheit hätte ihm auch nicht gefallen.

Für ihn war es eine Katastrophe, dass sein Timo jetzt auch tot war. Dahin gerafft von einem Milztumor. Wie sehr er ihm doch fehlte! Sein Hund. Sein treuer Weggefährte. Seit dem Tag, an dem Timo gehen musste, fühlte er sich noch einsamer als je zuvor. Alt und alleine. Unendlich einsam. Ob er sich noch einmal einen Hund holen sollte?

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Natürlich waren wir beide klatschnass als wir das Ufer erreichten. Gordon schüttelte sich kräftig. Mehrmals. Und die Wassertropfen flogen geradezu von ihm ab. Ich lief eine halbe Stunde neben ihm und zog einen immer weniger werdenden Wasserstreifen hinter mir her bis meine Kleider einigermaßen trocken waren. Vergnügt schwang ich mich in seinen Sattel.

Als wir in den letzten Waldweg auf unserem Heimritt einbogen, forderte ich ihn beschwingt zum Traben auf. Munter lief er los, um im nächsten Moment abrupt die Hufe in den Boden zu stemmen. Ich hatte alle Mühe, nicht aus dem Sattel geschleudert zu werden. Wie angewurzelt stand er da. Nichts an ihm bewegte sich. „Was ist denn los?“ Meine Fassungslosigkeit schwang in jeder Silbe. „Das da vor uns ist doch nur ein Auto. Ein ganz gewöhnliches Auto.“ Wie konnte so ein vierrädriges Gefährt meinen Gordon derart erschrecken? Zumal kein Motor lief. Und es völlig still da stand. Das Auto. Lediglich die Scheiben waren stark beschlagen. Von innen. Als würde eine ungewöhnlich hohe Luft-feuchtigkeit herrschen. Im Auto. „Komm, Schatz, geh weiter!“ animierte ich Gordon. „Wir wollen doch nach Hause. Auf geht’s!“ Spürbar unter Hochspannung setzte mein Pferd seine Hufe in Bewegung. Langsam. Ganz langsam lief er los. Keine zehn Meter weit. Dann stand er wieder wie festbetoniert und fixierte erneut das Auto, an dem wir auf jeden Fall vorbei mussten, um nach Hause zu kommen.

Da! Es bewegte sich! Das Auto! Ganz plötzlich fing es an auf und ab zu wippen. Verharrte einen Moment lang. Und wippte weiter. Auf und ab.

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Gerade als ich meinen einfachen, aber sensationell schmeckenden Rotweinkuchen in den Backofen schob, huschte etwas blitzschnell über meinen Kopf hinweg. Und ließ eine Kleinigkeit fallen. Natürlich mitten auf meinen Kuchen! In meinem Backeifer hatte ich völlig vergessen, dass Harry noch frei war. Harry war mein Kanarienvogel. Ein hübscher gelbgefiederter Freund, der mir mit seinem fröhlichen Gezwitscher jeglichen Kummer aus meinen Gedanken pfiff. Freies Fliegen fand er klasse und tobte sich dabei so richtig aus. So, wie eben gerade als er über mich mit meinem Kuchen hinweg flog und dabei seiner natürlichen Verdauung freien Fall ließ. Sein winziges Scheißhäuflein war derart schnell im Kuchenteig versunken, dass ich nicht einmal mehr wusste, wo es auch nur annähernd eingeschlagen war. Was sollte ich jetzt tun? Den Teig wegschütten? Einen neuen Rotweinkuchen machen? Hatte ich überhaupt noch genügend Zeit, um einen neuen Kuchen vorzubereiten? Nein. Die hatte ich nicht. Die Zeit war mir davon gelaufen und in einer Stunde würden meine Gäste Sturm klingeln. Ob so ein gebackenes Vogelkackhäufchen von einem Schokostreusel wohl zu unter-scheiden wäre? Mit dem bloßen Auge? Ich konnte es mir kaum vorstellen. Also schob ich den Rotweinkuchen in den Ofen. Mitsamt dem eingesunkenen Vogelhäufchen.

„Mama! Maaammmaaaaa!“ Was hatte mein Sohn doch für ein Organ. „Was ist denn?“ Täuschte ich mich oder klang meine Stimme leicht genervt? Mein Sohn verstand es nämlich bestens immer dann, wenn ich unter Zeitdruck war und irgendetwas vorzubereiten hatte, für das perfekte Chaos zu sorgen… „Mama, komm schnell! Harry …“

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